Vor 150 Jahren, am 28. April 1874, wurde Karl Kraus in Gitschin, Jičín (Böhmen), geboren. Am 12. Juni 1936 verstarb er in Wien. So weit die Lebensdaten jenes renommierten Publizisten, der 1899 die Zeitschrift Die Fackel begründet hatte. Der gefürchtete Kritiker und Satiriker hatte in den Jahren 1915 bis 1922 Die letzten Tage der Menschheit verfasst und sich damit einen bleibenden Namen gemacht. Vor seiner kritischen Sichtweise blieben weder Medien noch anerkannte Wissenschafter wie der Geologe und Präsident der Akademie der Wissenschaften, Eduard Suess (1831 bis 1914), verschont.

Porträt Eduard Suess
Der Geologe Eduard Suess war von 1898 bis 1911 Präsident der Akademie der Wissenschaften und als solcher ein oft befragter Experte.
© Österr.Geol.Gesellschaft

Das Vulkankatastrophe von Martinique

Eine verheerende Eruption des 1397 Meter hohen Mont Pelé in Norden von Martinique (Kleine Antillen) im Atlantik hatte am 8. Mai 1902 nahezu die ganze Hauptstadt der Insel, Saint-Pierre, zerstört. Tags darauf erreichten erste Katastrophenmeldungen die Alte Welt. "(…) wobei fast die gesamte, über 25.000 Seelen zählende Bevölkerung umgekommen sein soll." (Wiener Zeitung, 9. Mai 1902). Die Medien suchten nach Expertenmeinungen, um die Ursache der Katastrophe zu ergründen. Da es damals das Spezialwissen von Vulkanologen noch nicht gab, mussten Geologen Rede und Antwort stehen. Der prominenteste Geologe des Landes war Eduard Suess, er war Präsident (1898 bis 1911) der Akademie der Wissenschaften und Autor des mehrbändigen Werkes Das Antlitz der Erde, er hatte quasi weltweite Fachexpertise. Was lag näher, als ihn zu fragen?

Historische Ansichtskarte Vulkankatastrophe 1902
Die Vulkankatastrophe vom 8. Mai 1902 wurde in der künstlerischen Darstellung als Weltuntergang bezeichnet.
© Sammlung Hofmann

Zwei Tage später erschien der Artikel Die zerstörte Stadt St. Pierre (Neues Wiener Tagblatt, 11. Mai 1902) aus der Feder des Professors. Inhaltlich waren seine Aussagen sehr allgemein und vage. Kein Wunder, er hatte nur Informationen aus Telegrammen. Lediglich der Satz "Ich wiederhole, daß die Zahl der untergegangenen Menschen keinen Maßstab für die Heftigkeit der physischen Erscheinung bietet", zeugt von seinem Expertenwissen.

Karl Kraus über die Suess'sche Vulkanberichterstattung

Der Kommentar zum Suess'schen Bericht ließ seitens Karl Kraus nicht lange auf sich warten. In der Fackel (Heft 103 vom 16. Mai, S. 20) veröffentlicht er mit der kurzen Überschrift "Der Geolog" in der Rubrik "Antworten des Herausgebers" eine schonungslose Analyse des Suess'schen Artikels. Eingangs alteriert er sich über die Medien, die sich nur allzu gerne der Expertise von Experten bedienten. "(…) jedes Blatt wusste sich irgend einen Mann der Wissenschaft zu erraffen, der über ein Ereignis, dessen äusseren Charakter noch nicht einmal verbürgte Nachrichten bezeichnen, sein Sprüchlein sagen musste." Der Präsident der Akademie war durch die Anfrage des Neuen Wiener Tagblattes in Zugzwang geraten, er konnte schwer Nein sagen, wofür Kraus polemische Worte findet: "Aber Eduard Suess ist gefällig und schreibt einen Artikel darüber, dass er nichts zu sagen hat." Nicht nur das, Kraus zerlegt, wie ein strenger Deutschlehrer, den Artikel Wort für Wort.

Umschlag „Fackel“ vom Mai 1902
In Nummer 103 der "Fackel" erschien am 16. Mai 1902 die kritische Analyse des Berichts von Eduard Suess über das Erdbeben in Martinique.
© ÖAW

"Mildernde Umstände" für Suess

Dazu Karl Kraus im Originalwortlaut: "Prof. Suess erzählt also, was aus den 'bisherigen Berichten' ohnehin zu entnehmen war. Doch weiter: 'Die Nebenerscheinungen wie Verfinsterung (das ist doch eine Folge- und keine Nebenerscheinung), allgemeiner Schrecken, der plötzliche Ausbruch von einzelnen Wahnsinnsfällen und dergleichen wiederholen sich fast stets bei ähnlichen grossen Ausbrüchen'. Aber um zu wissen, dass durch Aschenregen, Rauch und in der Luft massenhaft herumfliegende lichtundurchlässige Körper, also durch einfache Lichtverdeckung, eine Verfinsterung entsteht, dass die Leute meistens erschrecken, wenn ihnen Untergang droht, und dass sogar manche wahnsinnig vor grauenhaftestem Entsetzen werden – ja, um das alles zu wissen, braucht man doch wahrhaftig nicht Eduard Suess zu sein."

Nachdem er jedes Wort auf die Goldwaage gelegt und seinem strengen Urteil unterzogen hatte, zeigte er am Ende des Artikels Mitleid. "Es thut einem im Herzen leid, zu sehen, wie ein Gelehrter es über sich bringt, seinen Namen als Aushängeschild für eine leere Auslage herzugeben. Aber Eduard Suess kann als mildernden Umstand unwiderstehlichen Zwang für sich geltend machen."

Das Breitenbrunner Beben

Keine sechs Jahre später gibt es die nächsten Berührungspunkte von Karl Kraus mit den Geowissenschaften. Diesmal war es ein Erdbeben, das auch er gespürt hatte. Die k. k. Zentral-Anstalt für Meteorologie und Geodynamik auf der Hohen Warte (heute: Geosphere Austria) meldete: "Bei allen Apparaten wurden die Schreibstifte abgeworfen, so daß wir vorläufig nur den Beginn des Bebens angeben können." (Neue Freie Presse, 20. Februar 1908). Dazu die wissenschaftlichen Fakten, basierend auf den Auswertungen historischer Beobachtungen der Geosphere Austria: Im österreichischen Erdbebenkatalog (Austrian Earthquake Catalog, AEC) ist am 19. Februar 1908 um 22 Uhr 11 Minuten ein Beben mit der Magnitude 4,8 und einer Epizentralintensität mit 6 bis 7° (Europäische Makroseismische Skala-98) verzeichnet. Mit anderen Worten: ein mäßig starkes Beben. Das Epizentrum lag bei Breitenbrunn im nördlichen Burgenland.

Historische Ansicht Türmerstube von St. Stephan
In der Türmerstube von St. Stephan fielen beim Erdbeben am 19. Februar 1908 Küchengeräte von der Wand.
© Wien Museum Online Sammlung

Auch in Wien war es von vielen wahrgenommen worden. Unzählige Meldungen liefen von der Bevölkerung ein und wurden in den Zeitungen abgedruckt. Dem Türmer von St. Stephan fielen mehrere Küchengeräte von der Wand, andernorts blieben Uhren stehen, fast überall klirrte das Geschirr. Jeder hatte sein persönliches Bebenerlebnis. Wieder wurde Suess, der das Beben beim Abendessen gespürt hatte, gefragt. "Die Beben sind Auslösungen der Spannungen, welche im Gebirge bestehen, und da Wien mitten in den Alpen liegt, welches Gebirge sich in den Karpathen fortsetzt, zeigen sich auch hier vielfach Aeußerungen der tektonischen Beben." Den Suess'schen Worten ist auch aus heutiger Sicht nicht zu widersprechen. Doch er stand diesmal nicht im Fokus von Karl Kraus, der sich vielmehr selber ins Gespräch brachte.

Zivilingenieur J. Berdachs "Eindrucksdichtigkeit"

Zwei Tage später finden sich nur noch vereinzelte Bebenmeldungen in der Neuen Freien Presse (22. Februar 1908). Konkret schreibt in der Rubrik "Kleine Chronik" auf Seite elf auch ein gewisser Zivilingenieur J. Berdach aus der Glockengasse (Wien-Leopoldstadt): "Ich las gerade Ihr hochgeschätztes Blatt, als ich ein Zittern in der Hand verspürte. Da mir diese Erscheinung von meinem langjährigen Aufenthalt in Bolivia, dem bekannten Erdbebenherd, nur zu vertraut war, eilte ich sogleich zu der Bussole, die ich seit jenen Tagen in meinem Hause habe." Wer weiterliest, muss hellhörig werden: "Allem Anscheine nach handelt es sich hier um ein sogenanntes tellurisches Erdbeben (im engeren Sinne), das von den kosmischen Erdbeben (im weiteren Sinne) wesentlich verschieden ist. Die Verschiedenheit äußert sich schon in der Variabilität der Eindrucksdichtigkeit."

Straßenzug Glockengasse in Wien
Die Glockengasse (Wien-Leopoldstadt) war die Adresse des fiktiven Zivilingenieurs J. Berdach, unter dessen Namen Kraus an die "Neue Freie Presse" schrieb.
© Thomas Hofmann

Jener Redakteur, der das Schreiben las und dann zum Druck freigab, hätte sich kritisch fragen müssen: "Was ist ein kosmisches Beben und was bedeutet Eindrucksdichtigkeit?" Doch scheinbar vertraute er der Fachexpertise des Zivilingenieurs. Das Credo von Hugo Portisch (1927 bis 2021), "Ihr habt immer der Wahrheit verpflichtet zu sein, check, re-check, double-check", heute selbstverständliches Handwerkzeug des Journalismus, kannte er jedenfalls nicht.

Karl Kraus: die Entzauberung des Zivilingenieurs

Wenig später ("Februar 1908") outete sich Karl Kraus, dessen publizistische Arbeiten von der Neuen Freien Presse nicht veröffentlicht wurden, dass er selber unter dem Namen des Zivilingenieur J. Berdach die Zeilen verfasst und an die Redaktion geschickt hatte. Nachzulesen unter dem Titel Das Erdbeben, veröffentlicht im Essayband Die chinesische Mauer (1910). Kraus hatte es auf die Sensationsgier der Medien, speziell der Neuen Freien Presse, abgesehen, der er eins auswischen wollte. Glaubt man Kraus, war die Redaktion sogar gewarnt worden. "Ich gab ja der Neuen Freien Presse zu bedenken, daß die Zuschriften, die sie nach irgendeinem Elementarereignis aus der Leopoldstadt empfange, von mir verfaßt sein könnten. Ich habe sie ausdrücklich gewarnt. Aber der liebe Leichtsinn will nicht hören, sitzt gemütlich beim Erdbeben, verzeichnet einlaufende Briefe und glaubt, daß das so schön weitergehen wird."

Mit hämischer Freude schildert er seine Sicht. "Ein Freund, der dabei war und dem ich die Mitteilung verdanke, daß in Bolivia bestimmt nie ein Erdbeben stattgefunden hat, meinte: Das wird nicht erscheinen. Ich sagte: Das wird erscheinen! Die Neue Freie Presse wird darüber erfreut sein, daß sie unter so vielen Laien endlich einen Fachmann zu Wort kommen lassen kann, der die Bussole bei der Hand hat, von einer Variabilität der Eindrucksdichtigkeit spricht und vor allem über eine Einteilung in tellurische und kosmische Erdbeben Bescheid weiß. Mein Freund sagte: Aber das 'Zittern der Hand' wird den Einsender verraten! Nein, sagte ich, wenn selbst das Zittern der Hand als Begleiterscheinung eines Erdbebens der Redaktion verdächtig vorkommen sollte, so wird es ihr doch wieder den Respekt des Lesers, der die Neue Freie Presse in die Hand nimmt, bedeuten."

Zeitungscover „Neue Freie Presse“ 1908
In der Ausgabe der "Neuen Freie Presse" vom 22. Februar 1908 hatte Karl Kraus unter dem Namen J. Berdach publiziert.
© ANNO

Dementsprechend differenziert fiel der Nachruf auf Karl Kraus in der Neuen Freien Presse (13. Juni 1936) aus. "Er hat begeisterte Anhänger und leidenschaftliche Gegner in Hülle und Fülle gehabt. Er wußte dies und empfand es als höchste Lebensgenugtuung." Die Illustrierte Kronen Zeitung erwähnte den "erbitterten Kampf gegen die liberale Großpresse." Edwin Rollett (1889 bis 1964) schrieb in der Wiener Zeitung, dass Kraus, "am allerunmittelbarsten und intensivsten, künstlerisch, kritisch und insbesondere ethisch gewirkt" hat. (Thomas Hofmann, Christa Hammerl, 25.4.2024)