Gloria Allred, Anwältin einiger mutmaßlicher Opfer von Harvey Weinstein.
Gloria Allred, Anwältin mutmaßlicher Opfer von Harvey Weinstein, hält nach der Aufhebung des Urteils vor dem Strafgerichtshof in New York dieses Schild hoch: "Die Me Too-Abrechnung wird weitergehen".
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Derzeit bewegt sich etwas bei prominenten Fällen zu sexualisierter Gewalt. Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass sich Gérard Depardieu wegen Vorwürfen zu sexuellen Übergriffen vor Gericht verantworten muss.

Und Ende April, wenige Tage davor, kam die Nachricht, dass das erste und durchaus harte Urteil gegen Harvey Weinstein aus dem Jahr 2020 durch ein Berufungsgericht aufgehoben wurde. Zwei aktuelle Entwicklungen, die allerdings in unterschiedliche Richtungen deuten. Bei Depardieu in eine, die wohl ohne #MeToo nicht möglich gewesen wäre. Erst durch diese Kampagne trauten sich viele Frauen, darüber zu reden, was ihnen innerhalb von Machtverhältnissen angetan wurde. Die Aufhebung des Urteils gegen Weinstein deutete hingegen an, dass #MeToo womöglich doch nicht so viel in Bewegung gesetzt habe.

Am liebsten Selbstjustiz?

Freude an der ersten und Kritik an der zweiten aktuellen Nachricht bringt vielen Feministinnen ein- und dieselbe Kritik ein: Sie würden einfach den Rechtsstaat nicht anerkennen wollen. Denn mit ihren Vorverurteilungen in sozialen Medien hätten sie auf Männer wie Depardieu eine "Hexenjagt" eröffnet, am liebsten Selbstjustiz betrieben, anstatt auf den Rechtsweg zu vertrauen. Und in Weinsteins Fall seien sie gar so dreist und würden nicht anerkennen, dass jedem Angeklagten ein faires und korrektes Verfahren zusteht. Also bitte: Klappe halten!

Doch so funktioniert das nicht, denn auch das Strafrecht ist das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Das Beispiel des Weinstein-Urteils zeigt das gut: Dieses wurde deshalb aufgehoben, weil neben den beiden Klägerinnen weitere Zeuginnen zugelassen wurden, die Weinstein sexuelle Übergriffe vorwarfen. Das hätte nicht sein dürfen, urteilte eine knappe Mehrheit der Richter:innen des Berufungsgericht, denn: Diese Vorwürfen waren nicht Teil der Anklage. "Der Angeklagte hat das Recht, nur für das angeklagte Verbrechen zur Rechenschaft gezogen zu werden", hieß es in der schriftlichen Begründung des Berufungsgerichts zu dieser Bestimmung im Bundesstaat New York, die generell, und nicht nur für Sexualdelikte gilt.

Ob es bei bestimmten Delikten sinnvoll sein könnte, das zu ändern, ist sicher eine komplexe Frage. Die Staatsanwaltschaft wollte im Falle Weinsteins jedenfalls weitere Zeug:innen hinzuziehen, um zu zeigen, dass es ein Muster bei Weinstein gebe. Der damalige Richter, James Burke, ließ das zu. Drei der Berufungsrichter:innen sahen das als korrekt an, vier nicht.

Zur Erinnerung: 2020 gab es neben der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung einen dritten Anklagepunkt, den eines "gewaltsamen sexuellen Angriffs", von dem Weinstein freigesprochen wurde. Wegen dieses Anklagepunkts ließ Burke weitere Zeug:innen zu. Damals wurde viel darüber diskutiert, ob und inwiefern Muster und Wiederholungen von sexueller Gewalt relevant sein sollten – oder eben nicht. Sind solche Diskussionen ein Angriff auf die Justiz? Wohl kaum.

Was heute selbstverständlich ist

Ja, Urteile sind zu akzeptieren – aber sie sind keine Naturgewalten. Auch die Rechtsprechung verändert sich laufend. Gott sei Dank, denn in Österreich konnte es vor 35 Jahren einem Polizisten herzlich egal sein, wenn eine Frau eine Anzeige wegen Vergewaltigung durch ihren Ehemann aufgeben wollte. In Deutschland ist Vergewaltigung in der Ehe sogar erst seit 1997 ein Straftatbestand. Politiker machten sich damals offen lustig über die Forderung, dass das ein Delikt werden sollte. Wie, um Himmels willen, soll man denn das belegen? Haha.

Nun ja: Heute ist es selbstverständlich, dass Vergewaltigung in der Ehe ein Straftatbestand ist. Auch sind es menschengemachte Beschlüsse, ob und nach welcher Zeit Straftaten verjähren. Vergewaltigung verjährt in Österreich zum Beispiel nach zehn Jahren. In welchen Fällen eine Verjährungsfrist sinnvoll ist und in welchen nicht – auch das ist Ergebnis von Abwägungen, Erfahrungen, gesellschaftlicher Weiterentwicklung und neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Etwa, dass viele Betroffene während eines sexuellen Übergriffs geradezu "einfrieren" und sich gar nicht wehren können. All das fließt laufend in die Rechtsprechung ein, und es ist ein seltsamer Gedanke, dass wir heute, im Jahr 2024, im Umgang mit Sexualdelikten bei einem Optimum angekommen wären – und der Fall somit abgeschlossen ist. (Beate Hausbichler, 3.5.2024)