Kopfrekonstruktion einer Frau mit langen dunklen Haaren
Der rekonstruierte Kopf der Neandertalerin "Shanidar Z" basiert auf einer höchst komplexen Puzzlearbeit.
University of Cambridge, BBC Studios/Jamie Simonds

Langes, dunkelbraunes Haar, ein selbstbewusster Blick, die Haut gezeichnet von einem entbehrungsvollen Leben, trotzdem Zufriedenheit ausstrahlend: So könnte "Shanidar Z" ausgesehen haben, zumindest in den Augen der renommierten Paläokünstler Adrie and Alfons Kennis, die Kopf und Gesicht des Fossils auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse der Universität Cambridge formten. Sie zeigen damit ein Bild, das – weit mehr als frühere Darstellungen – dem modernen Menschen verblüffend ähnlich sieht.

Neueste DNA-Analysen des 75.000 Jahre alten Skeletts, das 2018 in der Shanidar-Höhle im Nordosten des Irak gefunden wurde, enthüllten, dass es sich bei dem stark fragmentierten Fund um eine Frau handelt, die rund 1,50 Meter groß war und etwa mit Mitte 40 gestorben ist – ein sehr hohes Alter für prähistorische Verhältnisse. Unter anderem stark abgenutzte Kauflächen ihrer Zähne deuten auf ein langes Leben hin. Manche Schneidezähne waren fast bis auf die Wurzel abgetragen, wie das Forschungsteam unter der Leitung von Graeme Barker von der Universität Cambridge berichtet. Die Erkenntnisse flossen in die BBC-Doku Die Geheimnisse der Neandertaler ein, die seit wenigen Tagen auf Netflix abrufbar ist und die Forschenden bei der Arbeit begleitet.

Puzzle aus 200 Schädelfragmenten

Die Shanidar-Höhle ist eine der berühmtesten Neandertaler-Fundstätten. In den 1950er-Jahren wurden dort 50.000 bis 70.000 Jahre alte Überreste von zehn Neandertalern gefunden, die dort bestattet wurden. Die Ausgrabungen brachten eine ganze Reihe von Hinweisen auf die Lebensweise der Frühmenschen zutage, unter anderem, was ihren Speiseplan betrifft. Das nun rekonstruierte Skelett ist den Forschenden zufolge vielleicht das am besten erhaltene, das in diesem Jahrhundert gefunden wurde.

Schädelknochen
Der zertrümmerte Schädel samt Ober- und Unterkiefer wurde in den Laboren der Universität Cambridge in Handarbeit zusammengesetzt.
BBC Studios / Jamie Simonds

"Die Schädel von Neandertalern und modernen Menschen sehen sehr unterschiedlich aus", sagt Emma Pomeroy, Paläoanthropologin von der Universität Cambridge. "Neandertaler hatten große Augenbrauenwülste, ein fliehendes Kinn und eine hervorstehende Mittelpartie des Gesichts, was zu markanteren Nasen führt. Das nachgebildete Gesicht lässt jedoch vermuten, dass diese Unterschiede optisch nicht so stark ausgeprägt waren." Anhand der Rekonstruktion, die weniger fremdartig als früherer Darstellungen aussieht, sei es leichter, sich vorzustellen, wie es zur Kreuzung zwischen den Menschenarten kam. Immerhin trägt fast jeder heute lebende Mensch Neandertaler-DNA in sich.

Um überhaupt eine Nachbildung zu ermöglichen, war eine hochkomplexe Puzzlearbeit nötig. Der Schädel wurde nämlich relativ kurz nach dem Tod der Frau, vermutlich durch einen Felssturz, in mehr als 200 Fragmente zersplittert. Als das Archäologenteam ihn fand, waren die Knochen durch den jahrtausendelangen Druck der Sedimente stark verdichtet. Die fossilen Überreste von Shanidar Z wurden in Form von Dutzenden kleinen Gesteinsblöcken aus siebeneinhalb Metern Tiefe geborgen und dann per Mikro-Computertomografie gescannt.

Wie ein eingeweichter Keks

Mithilfe der Scans wurden die Schädelfragmente inklusive Ober- und Unterkiefer aus dem Sediment gelöst und in mühevoller Handarbeit in ihre ursprüngliche Form gebracht. "Jedes Schädelfragment wird vorsichtig gesäubert, zusätzlich werden Klebstoff und Bindemittel hinzugefügt, um den Knochen zu stabilisieren, der sehr weich sein kann – ähnlich der Konsistenz eines in Tee getauchten Kekses", sagt Pomeroy. "Es ist wie ein hochanspruchvolles 3D-Puzzle. Die Bearbeitung eines einzigen Blocks kann über zwei Wochen dauern." Anhand des daraus resultierenden virtuellen Schädelmodells wurde die Gesichtsrekonstruktion inklusive Muskeln, Fettpolstern und Haut vorgenommen.

Emma Pomeroy und der rekonstruierte Kopf
DiePaläoanthropologin Emma Pomeroy erzählt in der Netflix-Doku "Die Geheimnisse der Neandertaler" über die Forschungsarbeit.
Secrets of the Neanderthals/Netflix

Die Funde in der Shanidar-Höhle lassen aber nicht nur den Look einer Neandertalerin zum Leben erwachen, sie geben auch Einblicke in die Bestattungspraktiken der Neandertaler. "Unsere Entdeckungen zeigen, dass die Neandertaler von Shanidar ähnlich über den Tod und seine Folge gedacht haben könnten wie wir – ihre engsten evolutionären Vettern", sagt Graeme Barker. Shanidar Z wurde offenbar auf der Seite liegend in einer ausgehöhlten Grube zur Ruhe gebettet. Ihr Kopf lag auf einem flachen Stein, ähnlich wie auf einem Kopfpolster, eine Hand ans Gesicht gelegt.

Zwischen Leben und Tod

Vorherige Knochenfunde waren von Pollen umgeben, sodass Forschende annahmen, dass die Toten auf einem Blumenbett bestattet wurden. Neue Studien argumentieren, dass Bienen die Pollen in die Grabstelle getragen haben könnten. Der Ort dürfte aber eine besondere Bedeutung gehabt haben: Davon zeugen Reste von verkohlten Wildsamen, Nüssen und Gräsern sowie eine Feuerstelle, die in unmittelbarer Nähe zu der Höhle gefunden wurden. "Der Körper von Shanidar Z lag nur eine Armeslänge von der Stelle entfernt, an der die Lebenden kochten und aßen", schildert Pomeroy. "Für diese Neandertaler scheint es keine klare Trennung zwischen Leben und Tod gegeben zu haben." Anscheinend kamen Neandertaler immer wieder an diesen Ort, um ihre Toten zu begraben.

Noch gibt es wohl noch einiges zu entdecken in der Höhle: Tatsächlich stieß das Team bei den Dreharbeiten für die Doku auf die Überreste eines weiteren Individuums, von dem das linke Schulterblatt, einige Rippen und eine fast vollständige rechte Hand freigelegt wurden. Es kann also davon ausgegangen werden, dass noch mehr Wissen über die Neandertaler und ihre Lebensweise hier schlummert – das auch über ihre äußere Erscheinung hinausgeht. (Karin Krichmayr, 3.5.2024)